Blog-Annettes Schreibzeug

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15.09.2024, 18:58

Veröffentlichung in "beziehungsweise weiterdenken"

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08.09.2024, 19:17

Freundinnen

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12.07.2024

Wolfgang, die Wut und das innere Kind

Tr und Licht.jpgEr rasiert sich sorgfältig. Sein Spiegelbild verrät ihm, dass die letzten Tage Spuren hinterlassen haben. Blass, fahl und grau schaut er sich selbst entgegen. Er legt Rasierwasser auf. Ein Duft, den auch seine Frau sehr mag und der auch nach fast 30 Jahren noch aphrodisierende Wirkung auf sie zu haben scheint. Der Sex bei ihnen ist gut und regelmäßig. 
Doch dann ihr Gähnen vor drei Tagen, als sie sich im Restaurant gegenüber saßen. Es hätte ein schöner Abend werden sollen. Gutes Essen, eine Flasche Wein und sein immerwährendes Bemühen, auf die Ausführungen seiner Frau plausible Antworten in seinem Kopf zu finden. Der Beginn des Vorspiels. Doch es war anders gekommen.

Noch ein letzter Blick in den Spiegel. Er streicht sich über den Kopf. Mit seinen großen, rauen Händen fühlt er die stacheligen Spitzen seiner abrasierten Haare, die durch ihre Kürze das beginnende Grau verschleiern wollen. Seine  Hände können zupacken, haben es jeden Tag bewiesen. Erfolgreich! Und jetzt dieses Gähnen seiner Frau.
Er verlässt das Bad und steht unschlüssig vor seinem Kleiderschrank. Was soll er anziehen. Den Blouson, mit Jeans und Rollkragenpullover, oder doch lieber den taubenblauen Anzug mit braunen Schuhen. Er entscheidet sich für das Letztere.

Wie so oft war sie ihm ins Wort gefallen, hatte in verbessert, hatte seine Sätze der falschen Grammatik beschuldigt. Dann hatte sie gesagt “ Wann lernst du das endlich?“ Sie hatte gegähnt und ihm unmissverständlich klargemacht, dass sie sich auf ihr Bett freue, jedoch ohne ihn.
Getroffen wie vom Blitz, hatte sein Herz begonnen zu rasen. Seine Muskeln hatten sich angespannt, wie zum Kampf. Der Atem war schwer geworden. Mit großer Kraftanstrengung hatte er noch die Rechnung bezahlen können, um sich ins Auto zuretten. Seine Frau hatte neben ihm gesessen und gesagt, dass er lernen müsse, der Wahrheit ins Gesicht zu sehen. 
Dann war die ganze angesammelte Wut in einem fast animalischen Brüllen aus ihm herausgebrochen. Seine Stimme hatte sich überschlagen.
In diesem Moment war etwas in ihm aufgestiegen. So gewaltig, so mächtig, als würde ein Wesen von ihm Besitz ergreifen. Unbändige Kraft war wie ein Stromschlag in seine Nervenbahnen geschossen. Das Gehirn schien ausgeschaltet. Die Augen weit aufgerissen. Die Kehle zugeschnürt, sodass nur noch ein Grunzen entweichen konnte. Speichelfäden hatten sich in seinen Mundwinkeln gebildet und lösten sich in kleinen Fetzten. Seine Muskeln waren hart, angespannt und sehnten sich nach völliger Entladung. Der Zustand war machtvoll und zugleich fassungslos.
Erst sein Blick in die verängstigten Augen seiner Frau, hatte ihn in seinen Körper zurückkehren lassen. Schweigend waren sie nach Hause gefahren. Das Schweigen war geblieben und hatte sie in eine Eiszeit versenkt. Er hatte keine Worte finden können, es war leer.

Er kannte dieses Wesen in ihm. Doch die Vehemenz vor drei Tagen hatte ihn erschrocken. Sein Entschluss stand fest. Er wollte lernen, Worte zu finden. Worte  die erklären können, was in ihm passiert, wenn er die  Kontrolle verliert. Wenn alles in ihm weh tut.

Jetzt sitzt er da, in seinem taubenblauen Anzug. Seine Füße wippen verlegen in den braunen Lederschuhen.
Eine ältere Dame lächelt freundlich ins Wartezimmer und bittet ihn in ihr Sprechzimmer. Zwei große behagliche und dennoch funktionale Sessel warten auf sie. Den ganzen Weg bis hier her hatte er überlegt, wie er anfangen soll. Anfangen das Unmögliche zu erzählen. Worte zu finden, die die Scham überwinden. Worte, die beschreiben können, was nicht sein darf.
Seine Muskeln spannen sich wieder an. Wie sollte er ausgerechnet dieser fremden Frau erzählen, welches Wesen in ihm tobt, wenn die Wut aufflammt.
Sie lächelt ihn an, stellt Fragen, freundlich und professionell. Er weiß keine Antworten. Seine Anspannung wächst. Er hört ihre Sätze, wie durch Nebel. Manchmal dringen einzelne Worte zu ihm hindurch. Immer neue Fragen. Er beantwortet sie mit „ja“ oder „nein“, bemüht sich um Wahrheit.
Auf die Frage was seine Ziele im Leben gewesen seien, antwortet er sofort. „Eine Rolex, ein Auto und eine Frau“ hört er sich sagen. Rote Peinlichkeit durchfährt ihn. Er schaut auf, schaut in ein freundliches Gesicht. Kein Spott, keine Überheblichkeit ist zu sehen. Er schaut in Augen, die das Leben kennen, die es nicht verbergen, selbst schon an Abgründen gestanden zu haben. An den eigenen und an denen anderer Menschen, die zu ihr kommen. Ihre Stimme bleibt freundlich und ihr Blick offen. Langsam fühlt er, wie  es leichter wird zu reden, wie seine Füße Boden spüren.
Sie spricht vom inneren Kind. Einer Metapher für all die Prägungen, die Menschen als Kind erfahren. Die verletzten und beschämten inneren Kinder würden oft weggesperrt, aus dem Bewusstsein gelöscht. Doch sie bleiben, sie kommen plötzlich ans Licht, übernehmen das Steuer, sind außerhalb der  Kontrolle.

Er hört ihr zu. In ihm tauchen Bilder auf. Er erzählt ihr von dem kleinen Jungen, der verzweifelt am Küchentisch sitzt und versucht seine Hausaufgaben zu lösen. Seine Mutter mahnt ihn, er könne nicht den ganzen Tag den Tisch blockieren, bis er in sein Spatzenhirn etwas hinbekäme. Seine Geschwister lachen. Der kleine Junge ist Papas Liebling. Wenn Papa zuhause ist, darf der Junge seinen Papa in die Werkstatt begleiten und mit ihm Motoren reparieren. Schnell versteht der Junge die Zusammenhänge. Seine Hände sind flink und geschickt, im richtigen Moment am richtigen Platz. Wenn Papa nicht da ist, trifft ihn der Spott der Mutter. 
Seine Wut schluckt er runter, baut Mauern um sich herum, wartet auf Papa.

Tränen rollen über sein Gesicht. Ungeweinte Tränen des Kinderschmerzes. Tränen, die zur Wut wurden.
Nun sitzt er hier in seinem taubenblauen Anzug und weint, wie ein Kind.
Er möchte wiederkommen. Er möchte mehr erfahren über sein inneres Kind, das er heute kennengelernt hat. Er möchte es nicht mehr wegsperren, er möchte verstehen, was es braucht, um  zu heilen.

Mehr über das “innere Kind”
Foto: Bruder Klaus Kapelle
Bruder Klaus Kapelle, ein Kraftort der Moderne

Admin - 19:28 @ | Kommentar hinzufügen

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Über mich
Sozialpädagogin
Systemische Beraterin und Systemische Kinder-und Jugendtherapeutin


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