In meinem Blog "Annettes-Schreibzeug" erzähle ich Geschichten von Menschen, von Ereignissen und sammle besondere Momente.
Ich freue mich, euch Lori vorstellen zu dürfen. Sie ist als Gast ins Schreibzeug eingezogen und wird uns im „Lori Journal“ an ihren Gedanken teilhaben
lassen.
Neuigkeiten im Schreibzeug |
21.12.2024, 19:30
"Es war kein amouröses Gefühl, es war Vereherung". Die Bedeutung eines Lehrers für Wachstum und Persönlichkeitsentwicklung eines Schülers mehr
17.12.2024, 16:30
Aphorismen und was sie für uns bedeuten, herausgegeben von Hans-Gerog Schröder. Ein wunderschön gestaltetes Buch mit Beiträgen von Menschen, die sich mit Gedanken bekannter und auch weniger bekannter Frauen... mehr
22.12.2024
Seine Finger haben heute wieder Mühe den obersten Knopf seines Hemdes zu schließen. Seine Augen sind nicht mehr die besten und in den Händen plagen ihn die Zeichen des Alters. Früher hatte es seine Frau manchmal übernommen, diesen letzten, obersten Knopf zu schließen. Mit beiden Händen zog sie ihn dann am Kragen zu sich, ergatterte einen Abschiedskuss bevor er das Jackett überstreifte und das Haus verließ. Viele Jahre hatte er an der Volkshochschule gearbeitet, konnte dort seiner Liebe zur Literatur nachkommen. Einer Liebe, die in seinem Elternhaus nicht geteilt wurde. Für ihn war damals nach der 8. Klasse Schluss gewesen mit der Schule.
Sein Körper ist immer noch drahtig, kein Gramm Fett zu viel. Ein Blick in den Spiegel verrät ihm, dass alles an seinem Platz ist. Frisch rasiert und gekämmt verlässt er sein Zimmer, nimmt die Treppen hinunter und stößt die Tür zum Gemeinschaftsraum der Einrichtung auf, in der er nun lebt.
Dort sitzen schon einige in vertrauter Runde zusammen und eine Stimme durchzieht den Raum, von kurzem Lachen und leisem Kichern eingerahmt. Richtig, heute ist Erzähl-Café und es dauert nicht lange, bis auch er gebeten wird, von sich zu erzählen.
Fast wie von selbst formen sich seine Lippen und ohne zu überlegen beginnt er über seine Schulzeit zu berichten.
„Ich bin, wie damals üblich nur 8 Jahre zur Schule gegangen und habe nicht viele Lehrer erlebet. Uns schon gar keine guten Lehrer“, beginnt er seine Reise in die Vergangenheit. Bilder einer wilden 6. Klasse bahnen sich den Weg in die Erinnerung. Sie hatten keine Lust zu lernen. Ihren Schulalltag verbrachten sie damit, sich mit Papierkügelchen zu beschießen und mit Wasserpistolen die Langeweile im Unterricht zu vertreiben. „Dann kam Erich. Ich darf ihn mittlerweile duzen. Er brachte den Wandel“, sagt er mit einer Stimme aus Freude und Ehrfurcht.
Weitere Bilder tauchen auf. Fast lebendig sieht er Erich vor sich, erinnert sich wie er auf Augenhöhe mit den Schülern redete, wie er aus diesem wilden Haufen eine leistungsfähige Gemeinschaft machte.
Immer mehr Szenen der Vergangenheit tauchen auf. Ein Sportlatz, Langstreckenlauf, flirrende Sommerluft, staubige Aschenbahn. Die besten Läufer jeder Jahrgangsstufe traten gegeneinander an. Er gehörte dazu. Er war ein guter Läufer. Nicht ohne Anspannung nahm er an der Startlinie Aufstellung, als Erich hinzutrat und gemeinsam mit seinen Schülern ins Rennen ging. Schon wenige Sekunden nach dem Start lief er dicht hinter seinem Lehrer, blickte auf seinen trainierten Rücken, auf dem die Startnummer flatterte. Ein kurzes Zögern durchfuhr ihn, ob er seinen Lehrer überholen dürfe. Der Sportgeist siegte, er zog vorbei. Als sie für einen kurzen Moment nebeneinander liefen, schaute Erich zu ihm rüber und lächelte ihn einfach nur an.
Die Erinnerung wird immer deutlicher, lebendiger, er fühlt sich Erich plötzlich so nah. Sein Lehrer Erich. Politisch, progressiv, jung, sportlich, trat er in sein Leben und bewirkte einen Wandel bei ihm und seinen „Klassenkammeraden“.
Es waren keine amourösen Gefühle, die er für seinen Lehrer empfand, es war Verehrung. Erich imponierte ihm durch seine Art, wie er die Welt sah und wie er handelte. Erich öffnete ihm Türen in bisher unbekannte Welten, wie zum Beispiel der Literatur. Zum ersten Mal fühlte er sich gesehen. Gesehen mit all dem, was darauf gewartet hatte, geweckt zu werden.
Die Bilder im Kopf beginnen zu schwimmen, lösen sich auf. Irgendwann hatte Erich die Schule verlassen. Die Schule, die Klasse und auch ihn. Er hatte in die Erwachsenenbildung gewechselt, wo er auch zuvor gearbeitet hatte. Später erfuhr die Klasse, dass ihr Lehrer in der Justizvollzuganstalt gearbeitet hatte, bevor er ihr Klassenlehrer wurde.
Ihre Wege verloren sich für viele Jahre, bis der Zufall sie wieder zusammenführte. Seine Arbeitsstelle sorgte für ein Wiedersehen. Damals hatte er eine Kursleitung für den Unterricht in der Justizvollzugsanstalt besorgen müssen. Erich war wieder Lehrer im Gefängnis geworden und so trafen sie sich nach vielen Jahren wieder. Bei ihrem Wiedersehen hatte Erich ihn nach seinem Alter gefragt. 37 Jahre hatte er geantwortet und dann hatte Erich gesagt: „Jetzt kannst du aber auch Erich zu mir sagen.“ Diesen Tag hatte er nie mehr vergessen.
Es begann eine Zeit der glücklichen Verbindung. Er besuchte Erich regelmäßig, bis zu seinem Tod. Erich wurde fast 90 Jahre alt, hatte eine Frau und eine Tochter und mit jedem Jahr schien seine Gestalt kleiner und kleiner zu werden, als würde er schrumpfen.
Langsam verlassen ihn die Bilder der Erinnerung, er kommt zurück in den Raum mit den Menschen, die ihm zuhören. Sein Herz ist angefüllt mit Dankbarkeit an diesen, seinen Lehrer, an Erich, „seinen Kamerad“.
Er spürt die Unmöglichkeit, das, was Erich für sein Leben bedeutet hat hier in Worte zu fassen und es den Zuhörenden preiszugeben. Zu stak, zu groß ist das Gefühl. Es war so viel, was er ihm gegeben hat, weil er so anders war. Anders als alles, was er bisher aus seinem traditionellen und nicht sehr gebildeten Umfeld kannte. Eine tiefe Dankbarkeit durchzieht ihn bei diesem Gedanken.
Er hört die Worte einer Zuhörerin, die sagt: „So einen Lehrer kann sich jeder nur wünschen“. Mit einem kleinen Nicken in ihre Richtung stimmt er zu. Mit noch zittrigen Händen greift er das Glas Wasser auf dem Tisch. Sein Mund ist so trocken, als habe er gerade den Langstreckenlauf hinter sich. Das Wasser im Mund tut gut, spült die Erinnerungen weg und lässt ihn ganz in die Gegenwart zurückkommen.
Später wird er noch lange im Sessel seines Zimmers sitzen und an Erich denken. An Erich seinen „Lehrer und Kameraden“, der seine Persönlichkeitsentwicklung so maßgeblich bereichert hat, dass es sich gar nicht genau bemessen lässt.
Admin - 06:06 @ über das Leben | Kommentar hinzufügen
Über mich
Sozialpädagogin
Systemische Beraterin und Systemische Kinder-und Jugendtherapeutin
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