Schreib Blog "Annettes Schreibzeug"
Kurzgeschichten über kuriose-, besondere- und ganz normale Menschen wie du und ich.
In meinem Blog "Annettes-Schreibzeug" erzähle ich Geschichten von Menschen, von Ereignissen, sammle besondere Momente und nehme Bezug auf aktuelle Themen der Zeit.
Ich freue mich, euch Lori vorstellen zu dürfen. Sie ist als Gast ins Schreibzeug eingezogen und wird uns im „Lori Journal“ an ihren Gedanken teilhaben lassen.

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11.03.2025, 17:48

Schutzgebiet der Wut

Wolfgang hat Wut. Viel Wut, er findet ein Schutzgebiet für seine Wut.   mehr




12.03.2025

Schutzgebiet der Wut

Beine.jpgWolfgang rasiert sich sorgfältig. Sein Spiegelbild schaut ihm blass und fahl entgegen. Er legt Rasierwasser auf. Ein Duft, den auch seine Frau sehr mag und der auch nach fast 20 Jahren noch aphrodisierende Wirkung auf sie zu haben scheint.
Doch dann ihr Gähnen vor drei Tagen, als sie sich im Restaurant gegenüber saßen. Es hätte ein schöner Abend werden sollen. Gutes Essen, eine Flasche, kein Zeitdruck. Der Beginn des Vorspiels. Doch es war anders gekommen.
Noch ein letzter Blick in den Spiegel. Er streicht sich über den Kopf. Mit seinen großen, rauen Händen fühlt er die stacheligen Spitzen seiner kurz rasierten Haare. Seine Hände können zupacken, haben es jeden Tag getan und für Wohlstand gesorgt. Und jetzt das Gähnen seiner Frau.
Er verlässt das Bad, steht unschlüssig vor seinem Kleiderschrank. Was soll er anziehen. Den Blouson, mit Jeans und Rollkragenpullover, oder doch lieber den taubenblauen Anzug mit braunen Schuhen. Er entscheidet sich für das Letztere.
Wie so oft war sie ihm ins Wort gefallen, hatte ihn verbessert, hatte seine Sätze der falschen Grammatik beschuldigt. Hatte gesagt “Wann lernst du das endlich?“, hatte gegähnt und ihm unmissverständlich klargemacht, dass sie sich auf ihr Bett freue, jedoch ohne ihn.
Wie vom Blitz getroffen hatte sein Herz begonnen zu rasen. Seine Muskeln hatten sich angespannt, der Atem war schwer geworden. Mit großer Kraftanstrengung konnte er noch die Rechnung bezahlen und sich ins Auto retten. Seine Frau saß neben ihm und als sei es nicht schon genug sagte sie, dass er lernen müsse, der Wahrheit ins Gesicht zu sehen.
Dann war die ganze Wut aus ihm herausgebrochen. Seine Stimme hatte sich überschlagen. Etwas stieg in ihm auf. So gewaltig, so mächtig. Unbändige Kraft war wie ein Stromschlag in seine Nervenbahnen geschossen. Das Gehirn schien ausgeschaltet. Die Kehle zugeschnürt. Speichelfäden hatten sich in seinen Mundwinkeln gesammelt und lösten sich in kleinen Fetzen bei jedem neuen Wort. Der Zustand war machtvoll und zugleich fassungslos.
Erst sein Blick in die verängstigten Augen seiner Frau hatte ihn in seinen Körper zurückkehren lassen. Schweigend waren sie nach Hause gefahren. Das Schweigen war geblieben und hatte sie in eine Eiszeit versenkt. Er hatte keine Worte finden können, es war leer in ihm.
Jetzt sitzt er da, in seinem taubenblauen Anzug. Sein Blick streift das Schild an der Eingangstür „Ehe- Familie- und Lebensberatung“, seine Füße wippen verlegen in den braunen Lederschuhen.
Eine ältere Dame blickt freundlich ins Wartezimmer und bittet ihn in ihr Sprechzimmer. Zwei große behagliche und dennoch funktionale Sessel warten auf sie. Den ganzen Weg bis hier her hatte er überlegt, wie er anfangen soll. Anfangen das Unmögliche zu erzählen. Worte zu finden, die die Scham überwinden. Worte, die beschreiben, was nicht sein darf.
Seine Muskeln spannen sich wieder an. Wie soll er ausgerechnet dieser fremden Frau erzählen, welches Wesen in ihm tobt, wenn die Wut aufflammt.
Sie lächelt ihn an, stellt Fragen, freundlich und professionell. Er weiß keine Antworten. Seine Anspannung wächst. Er hört ihre Sätze, wie durch einen Nebel. Manchmal dringen einzelne Worte zu ihm hindurch. Auf die Frage, was seine Ziele im Leben gewesen seien, antwortet er sofort: „Eine Rolex, ein Auto und eine Frau“. Rote Peinlichkeit durchfährt ihn. Er schaut auf, schaut in ein freundliches Gesicht. Kein Spott, keine Überheblichkeit ist zu sehen. Er schaut in Augen, die das Leben kennen, die es nicht verbergen, selbst schon an Abgründen gestanden zu haben. An den eigenen und an denen anderer Menschen, die zu ihr kommen. Ihre Stimme bleibt freundlich und ihr Blick offen. Langsam fühlt er, wie es leichter wird zu reden, wie seine Füße beginnen den Boden zu spüren.
Er beginnt über seine Wut zu sprechen. Die Wut, die in ihm aufsteigt, wie ein Wesen, das von ihm Besitz ergreift. Er erzählt von dem Vorfall im Restaurant, von der Angst in den Augen seiner Frau. Die Angst die Kontrolle zu verlieren. Seine Stimme versagt. Er holt tief Luft, atmet langsam aus. Er spürt, dass er Zeit hat sich wieder zu sammeln, fühlt sich angenommen, ohne Bewertung.
Nach eine Pause sagt er, dass er diese Wut schon lange kenne, bereits als Kind habe sie ihn mitgerissen. Bilder der Kindheit tauchen in ihm auf und er beginnt Worte zu finden, die von ihm als kleinen Jungen erzählen. Wie er verzweifelt am Küchentisch sitzt und versucht seine Hausaufgaben zu lösen. Wie seine Mutter ihn mahnt, er könne nicht den ganzen Tag den Tisch blockieren bis er etwas in sein Hirn hinbekäme und wie seine Geschwister ihn auslachen.
Er ist Papas Liebling. Sein Vater nimmt ihn manchmal mit in seine Werkstatt, zeigt ihm wie Motoren funktionieren. Schnell versteht der Junge die Zusammenhänge. Seine Hände sind flink und geschickt, im richtigen Moment am richtigen
Platz.
Doch das Größte ist es für ihn, wenn er mit seinem Vater die Angelsachen, den Rucksack mit Proviant und den Eimer für den späteren Fang ins Auto packen kann und sie an ihren Platz fahren. Es ist immer derselbe Platz, ihr Platz. Dort wo der Rhein eine starke Biegung macht und wenig später an den großen, grünen Trichtern der Kiesverladestelle  vorbeifließt und ein paar Kilometer weiter an der Promenade der Hafenspitze südliches Flair verbreitet. Die flussaufwärts fahrenden Schiffe müssen an dieser Stelle jedes Mal über die ganze Flussbreite ausholen, um die Kurve unfallfrei nehmen zu können.
Ihr Platz liegt versteckt an einem breiten Kiesstrand, blickgeschützt von großen Pappeln, die das Ufer umsäumen und deren Blätter schon beim kleinsten Windstoß rauschen. Im Frühjahr übersät der Pappelschnee das Ufer. In dicken, weißen Knäulen werden die Samen der Bäume umhergeweht und bedecken die Gegend mit ihrem weißen Pflaum.
Meist laufen sie schweigend die kurze Strecke vom  Auto bis zu ihrem Angelplatz. Sie brauchen keine Worte. Ein Blick, eine Geste genügt um ihr Lager für die nächsten Stunden einzurichten. Auch schlechtes Wetter kann sie nicht davon abhalten ihre kleinen Hocker mit der olivgrünen Bespannung auf die rundgewaschenen Kieselsteine zu setzen und die Angel auszuwerfen.
Vorbeifahrende Schiffe mit ihren tuckernden Dieselmotoren, ihrem Geruch und ihren manchmal phantasievollen Namen wie „Heide Röschen“, „Calypso“ oder „Majestic Blue“ nehmen ihre Sehnsucht mit auf die Reise. Wortlos schauen sie den Schiffen hinterher, einig und verbunden. Unterbrochen wird die Stille nur, wenn ein Ziehen an der Angel kleine Kreise in das Wasser zeichnet. Dann geht alles schnell. Jeder Handgriff sitzt und nach wenigen Minuten ist der Fisch im wassergefüllten Eimer.
Wenn sie am Abend nach Hause kommen, erwartet sie meist der ärgerliche Blick der Mutter und eisiges Schweigen. Zulange waren sie wieder weggeblieben. Die Mutter nimmt wie immer die Fische aus dem Eimer, spült sie ab, legt sie in die Kühltruhe und sagt, dass sie sie später zubereiten werde. Niemals hat es je Fisch zu Essen gegeben.
An einem ganz normalen Tag bleiben der Stuhl und das Bett des Vaters leer. Leer bleiben auch die Augen der Mutter, als sie mit wenigen Worten erklärt, dass der Vater weg sei und dass es auch besser wäre, wenn er nicht mehr zurückkäme.
Die Trauer und die Wut des Jungen wachsen mit jedem Tag. Er schluckt sie herunter, baut Mauern um sich herum, wartet auf seinen Papa.
Tränen des Kinderschmerzes rollen über sein Gesicht. Tränen, die nicht geweint werden durften und zur Wut wurden. Er kann sich nicht erinnern, wann er das letzte Mal geweint hat. Nun sitzt er hier in seinem taubenblauen Anzug und weint, wie ein Kind.
Er möchte wiederkommen.

Admin - 04:21:56 @ besondere Momente | Kommentar hinzufügen


Über mich
Sozialpädagogin
Systemische Beraterin und Systemische Kinder-und Jugendtherapeutin

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